Stressfolgeerkrankung/Burnout: Interview mit Dr. med. M.P.H Barbara Hochstrasser

Im April 2004 eröffnete die Privatklinik Meiringen die schweizweit erste Burnout-Station. Die Idee von Dr. med. M.P.H. Barbara Hochstrasser entstand 2003, als der Begriff weder mediale noch gross medizinische Aufmerksamkeit erlebte. Im Interview erzählt sie uns, was sie zur Eröffnung bewegte und was sich in den letzten 20 Jahren verändert hat.

Wann spricht man von einem Burnout resp. einer Stressfolgeerkrankung?

Von Burnout sprechen wird dann, wenn eine Person eine ausgeprägte Symptomatik von chronischem Stress aufweist, wie ständige Anspannung, möglicherweise Episoden von sehr hoher Herzrate mit Unregelmässigkeiten und erhöhtem Blutdruck, vermehrt Kopfschmerzen oder Migräne, Magen-Darm-Problemen, verbunden mit Störungen der Konzentration, des Gedächtnisses oder komplexeren kognitiven Fähigkeiten wie Multitasking oder Lösen komplexer Probleme und Planung. Dazu kommen oft Schlafstörungen, Störungen des Appetits und die Unfähigkeit, sich zu erholen. Das Kardinalsymptom von Burnout ist jedoch eine schwere Erschöpfung und reduzierte Belastbarkeit, oft mit hoher Sensibilität gegenüber Reizen, wie z. B. Lärm oder eine grösser Gruppe von Menschen. Zudem sind auch psychische Symptome vorhanden wie Ängstlichkeit bis Panik oder Niedergestimmtheit und Depressivität. Die Motivation und Freude an der Arbeit geht verloren und macht oft einem ständigen Überforderungsgefühl oder einer zynischen Haltung Platz. Auch die Leistungsfähigkeit ist deutliche reduziert.

Vor 20 Jahren war «Burnout» ein unbekannter Begriff hierzulande. Was bewegte Sie dazu, eine Burnout-Station zu gründen? Gingen Sie damit nicht ein grosses unternehmerisches Risiko ein?

Das Vorliegen dieser gesundheitlichen Beeinträchtigungen war offensichtlich, und dass sie einer besonderen therapeutischen Herangehensweise bedurften ebenso. Es handelte sich hier nicht um eine «einfache» Depression, sondern, wenn sie vorlag, um eine Depression mit besonderen Anzeichen.

Die Station war innert kürzester Zeit ausgelastet, Sie haben also ins Schwarze getroffen. Gab es trotzdem Steine, die Ihnen bei der Pionierarbeit in den Weg gelegt wurden?

Widerstand fand sich eher bei einigen der ärztlichen Kollegen, seitens des Verwaltungsrates war die Haltung sehr offen. Wir hatten natürlich eine Analyse und Schätzung der Häufigkeit gemacht und fingen, um das unternehmerische Risiko gering zu halten, mit einer kleinen Pilotstation mit 13 Betten an.

Heutzutage sind die Begriffe Mentale Gesundheit und Burnout in aller Munde. Was hat sich in den letzten 20 Jahren verändert?

Gerade die Diskussion um das Thema Burnout und die Tatsache, dass sich viele Menschen in der Beschreibung von Burnout wiedererkannten, hat die damit oft einhergehende Depression entstigmatisiert. Organisationen erlebten, dass nicht wenige ihre Mitarbeitenden eine solche gesundheitliche Beeinträchtigung oder Anzeichen davon aufwiesen, und begannen, das Problem ernst zu nehmen. Auch die Gesundheitspolitik beschäftigte sich zunehmend mit der Gesundheit am Arbeitsplatz. So führte zum Beispiel das SECO ab dem Jahre 2000 mehrere Studien zu Stress am Arbeitsplatz durch. Mit dem Begriff der psychosozialen Risiken führte das SECO eine neue, wichtige Dimension in die Beurteilung der Arbeitssicherheit ein.

Trotzdem haben Betroffene immer noch mit Vorurteilen und Stigmatisierung zu kämpfen. Was muss passieren, damit eine Stressfolgeerkrankung in der Bevölkerung gleich ernst genommen wird wie zum Beispiel eine Herz-Kreislauf-Erkrankung?

Burnout ist eine Erkrankung, die man nicht mit einem Röntgenbild oder einem einfachen Laborbefund abbilden, einfach messen oder gar sehen kann (wie einen Gips, zum Beispiel). Daher ist es schwierig, es zu erfassen und zu begreifen. Eine hohe physiologische Stressbelastung lässt sich heute mit einer erniedrigten Herzratenvariabilität messen, aber das sagt nur etwas über Stress aus, nicht über Burnout. Burnout wird oft als ein ausschliesslich psychisches Störungsbild betrachtet, und diese sind leider nach wie vor mit einem Stigma behaftet. Burnout ist eine psychosomatische Störung, und ist, wie psychische Leiden übrigens auch, eine komplexe Störung, bei der neurophysiologische, hormonbedingte und psychologische Prozesse zusammenwirken. Das gilt es sich immer wieder vor Augen zu führen. Meines Erachtens werden heute Stressfolgeerkrankungen in der Allgemeinbevölkerung zunehmend ernst genommen, da auch zunehmend mehr Leute im eigenen Lebensumfeld an einer solche Erkrankungen leiden.

Nicht nur Betroffene leiden unter den Folgen eines Burnouts, sondern auch das Umfeld. Welche Vorkehrungen können Einzelpersonen und Arbeitgebende treffen, um Stressfolgestörungen präventiv vorzubeugen?

Die wichtigste persönliche Vorkehrung ist, eine gute Lebensbalance zu leben. Das heisst ein Gleichgewicht zu schaffen zwischen Leistung und Erholung, zwischen körperlicher Aktivität und Entspannung, zwischen Zuwendung zu anderen Menschen oder zu einer Sache und zu sich selbst, zwischen Geben und Nehmen. Es gilt, sich bewusst zu werden, was dem eigenen Leben Sinn gibt, und welche Werte für uns wichtig sind. Und danach unser Leben auszurichten - sodass wir das umsetzen und leben können, was uns persönlich bereichert und Sinn vermittelt.

Um Burnout vorzubeugen tun Arbeitgeber gut daran, wenn sie eine konsequent mitarbeiterorientierte Führungskultur leben und ihren Mitarbeitenden die Ressourcen zukommen lassen, die sie benötigen, um sich aus eigener Initiative motiviert mit für sie interessanten Aufgaben auseinanderzusetzen und sich dabei als wirksam zu erleben. Dazu gehören Wertschätzung, Autonomie, Gerechtigkeit, Teamgeist und eine gute Arbeitsatmosphäre, klare, gemeinsame und gelebte Werte, Entwicklungsmöglichkeiten und eine realistische Einschätzung, was ein menschlicher Organismus überhaupt leisten kann, beziehungsweise was er braucht, um sich angemessen zu regenerieren.

2023 haben Sie das Fachbuch «Burnout und Erschöpfungsdepression» veröffentlicht. Wenn Sie eine Message daraus an die gesamte Schweizer Bevölkerung vermitteln könnten, was würden Sie uns allen raten?

Bleiben Sie in einem dynamischen Gleichgewicht und bleiben Sie Sie selbst!